Süddeutsche Zeitung – 05.02.2011

Das dicke Ende kommt noch

Bereits jetzt sind weltweit eine halbe Milliarde Menschen adipös. Doch einer neuen Studie zufolge steht uns der globale „Tsunami der Fettleibigkeit“ erst bevor.

Sämige Eintöpfe, frittiertes Fleisch, Süßkartoffelsalat und in Kokosmilch mariniertes Lammfleisch – das sind nur einige der Speisen, die auf den Pazifikinseln Tongas zu einer landestypischen Mahlzeit gehören. Dass die Bewohner von Tonga wie die aller Pazifikinseln gerne üppig essen, spiegelt sich auch in den Analysen eines internationalen Forscherteams wider. Die Wissenschaftler haben untersucht, wie sich weltweit in den vergangenen 30 Jahren der Anteil der Fettleibigen sowie Blutdruck- und Cholesterinwerte verändert haben. In die Studie flossen die Daten von mehr als neun Millionen Erwachsenen ein. Die Ergebnisse hätten sowohl erschreckt als auch überrascht, schreiben die Forscher im Fachmagazin The Lancet.

Den drei Studien zufolge sind weltweit etwa eine halbe Milliarde Menschen fettleibig – fast doppelt so viele wie noch vor 30 Jahren. Als fettleibig oder adipös gilt, wer einen Body-Mass-Index (BMI) von mindestens 30 hat. Den BMI erhält man, wenn man sein Gewicht (in Kilogramm) durch das Quadrat seiner Größe (in Metern) teilt. Menschen mit einem BMI zwischen 20 und 25 gelten als normalgewichtig. Liegt der BMI zwischen 25 und 30, spricht man von Übergewicht.

Gemessen an der Gesamtbevölkerung, haben Pazifikstaaten wie Tonga weltweit den größeren Anteil an Fettleibigen. Verantwortlich dafür sind wohl einerseits die sehr gehaltvollen traditionellen Speisen. Dicksein steht dort vielerorts noch immer für Reichtum. Andererseits bereiten sich ungesunde westliche Ernährungsgewohnheiten zunehmend auch in den Pazifikstaaten aus. Betrachtet man nur die Industriestaaten, liegen erwartungsgemäß die USA an der Spitze, ebenso wie Neuseeland. Den geringsten Anteil an extrem Dicken haben im weltweiten Vergleich Bangladesch, Indien und der Kongo, unter den Industriestaaten bildet Japan das rühmliche Schlusslicht. Deutschland liegt, was die Männer angeht, auf Platz zehn, bei den Frauen auf Platz 17. Angesichts der weltweiten Daten warnen die Autoren vor einem „Tsunami der Fettleibigkeit, der letztlich alle Regionen erfassen wird“.

Überraschende Ergebnisse brachte die Analyse der zwei anderen Faktoren, die Herz-Kreislaufkrankheiten begünstigen: Blutdruck und Cholesterinwerte. In den reichen Ländern sind beide in den vergangenen 30 Jahren zum Teil stark gesunken. Hohe Blutdruckwerte sind heute, im Gegensatz zu 1980, vor allem ein Problem der ärmeren Länder. In den USA, Australien und Kanada ermittelten die Forscher besonders niedrige Blutdruckwerte. Eine ähnliche Entwicklung, wenn auch nicht ganz so ausgeprägt, zeigte sich bei den Cholesterinwerten. In den reicheren Ländern essen die Leute zunehmend weniger Salz, dafür mehr Gemüse – und sie nehmen verstärkt blutdrucksenkende Medikamente, so begründen die Forscher ihre Ergebnisse.

„Die Studie zeigt gut, wie sich Risikofaktoren in den unterschiedlichen Regionen der Erde verbreitet haben“, sagt David Fäh vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Zürich. Dennoch wirken einige Aussagen auf den ersten Blick alarmierender, als es gerechtfertigt erscheint. So stellten die Autoren auch einen steigenden Durchschnitts-BMI fest. Für Männer liegt er derzeit bei 23,8, für Frauen bei 24,1 – und damit nicht mehr allzu weit entfernt von jenem Wert, von dem an ein Mensch als übergewichtig gilt. Dabei haben zahlreiche und qualitativ hochwertige Studien gezeigt, dass ein BMI zwischen 25 und 30 alleine nicht das Risiko erhöht, an einer Herz-Kreislauferkrankung zu sterben. Im Gegenteil: Menschen jenseits der 70 profitieren sogar von solchen BMI-Werten.

Unumstritten hingegen ist, dass Fettleibigkeit zum Tod führen kann. Derzeit sterben jährlich weltweit fast drei Millionen Menschen an den Folgen. Sollte sich die Entwicklung der vergangenen 30 Jahre fortsetzen, würde man rein rechnerisch auch einen ernormen Anstieg der Adipositas-Todesfälle erwarten. Dem stehen jedoch Erfahrungen aus den USA und anderen Industriestaaten entgegen. In vielen reichen Ländern, die einen großen Anteil Fettleibiger haben, ist die Zahl der Herz-Kreislauferkrankungen in den vergangenen 30 Jahren nämlich gesunken, in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen hingegen gestiegen. „Vermutlich liegt das an Fortschritten bei Früherkennung und Behandlung“, sagt Fäh. „Möglicherweise ist Übergewicht heute aber auch weniger gesundheitsgefährdend als vor 30 Jahren.“

Katrin Blawat